In einer Welt der Ungewissheit: Wenn die Stabilität zur Ausnahme wird
Radikale Veränderungen, Disruptionen und Ungewissheiten sind zum Dauerzustand geworden. Niemand wurde darauf ausreichend vorbereitet – wir verfügen weder über bewährte Strategien im Umgang mit diesen Phänomenen,
noch haben wir das Gefühl, die Situation kontrollieren zu können.
Als Coach erlebe ich die Auswirkungen besonders bei den Menschen und Führungskräften, mit denen ich arbeite. Sie navigieren durch beispiellose Störungen wie die globale Pandemie, rasante Veränderungen der Arbeitsmodelle, radikale technologische Fortschritte wie KI und
wirtschaftliche Unsicherheit. Ihre Aufgabe ist es, Stabilität zu vermitteln, während die Welt alles andere als stabil ist.
Der Druck wächst, während gleichzeitig die Leistungsfähigkeit sinkt und Überforderung zum Normalzustand wird. Schnelle Ad-hoc-Entscheidungen oder einfache Problemlösungen greifen nicht mehr. Die Maxime „Alles für den Erfolg“ ist in einer solch komplexen Welt zu simpel geworden.
Diese Entwicklung verändert nicht nur die Herausforderungen unserer Klient*innen, sondern auch die Anforderungen an uns als Coaches und die Themen, die ins Coaching gebracht werden.
„Als ich begann, mich intensiver mit dem Thema Coaching-Schulen zu beschäftigen, fühlte ich mich fast erschlagen: Unzählige Webseiten, endlose Schlagworte und scheinbar unüberschaubare Richtungen. Was ist wirklich fundiert? Was zählt als anerkannte Coachingschule? Und welche Methoden sind „nur“ hilfreiche Ansätze?“
Orientierung und Stabilität zu finden, wenn diese im Außen kaum noch zu finden sind.
Ein Vergleich der Coaching-Themen vor zehn Jahren mit den heutigen zeigt deutliche Unterschiede: Damals standen häufig Themen wie Führungsverhalten, Leistungsverbesserung, Produktivität, Zeitmanagement und herkömmliches Konfliktmanagement im Vordergrund.
Die Coaching-Beziehungen waren häufiger transaktional, also auf konkrete Sachfragen ausgerichtet. Klient*innen kamen mit klar definierten Herausforderungen und Coaches unterstützten bei der Problemlösung in einem
relativ stabilen Kontext.
Heute erleben wir eine Verschiebung. Die Anforderungen sind komplexer geworden und erfordern mehr als Quick-Win-Lösungen. Im Mittelpunkt stehen zunehmend Themen wie Resilienz, Stressbewältigung, Anpassungsfähigkeit
und radikale Selbstführung. Es geht weniger als früher darum, konkrete Probleme zu lösen, sondern zunehmend ist emotionale Unterstützung gefragt und Personen in ihrer Gesamtheit zu coachen – mit ihren Werten, Stärken, Ressourcen, Haltungen und Überzeugungen. Ziel ist es, in sich
selbst Orientierung und Stabilität zu finden, wenn diese im Außen kaum noch zu finden sind.
Von „Coaching the What“ zu „Coaching
the Who“ – die Verschiebung zum
transformativen Coachingansatz
Der Coachingansatz ist das, was bei der ICF als „Coaching the Who“ bezeichnet wird. Dabei steht nicht mehr das „Was“, also das konkrete, isolierte Problem und die Lösung davon im Fokus, sondern die Veränderung der Person selbst. Coaching entwickelt sich von einer transaktionalen Beziehung zu einem zunehmend transformierenden Prozess, der den ganzen Menschen in seinen gegenwärtigen Herausforderungen einbezieht.
Als Coaches hören wir nicht nur auf das Gesagte, sondern erfassen, was den Menschen vor uns ausmacht, was ihm wichtig ist und welche Stärken er besitzt. Wir achten auf Ressourcen, erkennen förderliche und hinderliche Denkmuster und arbeiten mit Emotionen. Wir unterstützen Klient*innen dabei, sich in ihrer Ganzheit wahrzunehmen und sich ihrer selbst bewusst zu werden.
So verschaffen sie sich einen Zugang zu einem inneren Kompass für Entscheidungen. Anstatt zu fragen, was willst Du in dieser (unklaren und komplexen) Situation tun, wird die Antwort auf die Frage „Wer willst du in dieser Situation sein?“ zur Grundlage für die innere Haltung und bestimmt das Handeln. Ein transformativer Coachingansatz unterstützt Klient*innen umgekehrt darin, durch das Einbeziehen ihrer identitätsstiftenden Werte,
Überzeugungen und Verhaltensweisen zu reflektieren und anzupassen, um ihre Flexibilität in sich ständig ändernden Umständen zu fördern.
Gleichzeitig begleiten wir Klient*innen bei der Bewältigung von Stress und Unsicherheit, denn die Fähigkeit zur Förderung von Resilienz gewinnt zunehmend an Bedeutung. Klient*innen lernen dadurch, sich auf ihre inneren Ressourcen zu verlassen, statt von äußeren Umständen abhängig
zu sein.
Zusätzlich stärkt transformatives Coaching die Eigenverantwortung der Klient*innen, befähigt sie zu proaktivem Handeln und zur Übernahme von Verantwortung für ihre auf Werten und inneren Überzeugungen basierenden Entscheidungen. Für Klient*innen bedeutet der transformative Ansatz, dass sie im Coaching weniger eine kurzfristige Symptombehandlung erleben, sondern ihre eigene nachhaltige Entwicklung, die sie befähigt, auch zukünftige Herausforderungen selbstständig zu meistern. Die Coaching-Beziehung wird tiefer und vertrauensvoller, da nicht nur an Problemen, sondern an der Person gearbeitet wird.
Das Fazit ist, die Anforderungen an Coaches und ihren Ansatz haben sich erweitert, wenn nicht grundlegend verändert. In einer Welt der Unsicherheit und Komplexität reicht es nicht mehr aus, nur an der Sache selbst und an Lösungen dafür zu arbeiten. Die Zukunft gehört dem transformativen Coach, der in der Lage ist, die ganze Person zu sehen und zu begleiten.
ICF-Zertifizierung: Der Weg zur Meisterschaft im transformativen Coaching
Transformatives Coaching ist kein Novum und wird in vielen Coach Aus- und Weiterbildungen gelehrt. Doch die aktuellen Herausforderungen verstärken die Relevanz, wenn nicht sogar die Wichtigkeit einer Verschiebung hin zu diesem Ansatz. Die Frage stellt sich, wie kann ich als Coach den transformativen Ansatz entwickeln oder vertiefen?
Die Fähigkeiten transformativ zu arbeiten sind in den Core Competencies der ICF indirekt verankert. Insbesondere die Kompetenzen „Maintains Presence“, „Cultivates Trust and Safety“, „Active Listening“ und „Evokes Awareness“ spiegeln Anforderungen des transformativen Coachings wider.
So haben Coaches die Möglichkeit, diese Fähigkeiten im Rahmen des Mentoringprozesses für die ICF-Zertifizierungen gezielt auszubauen. Der Weg hin zum PCC oder MCC beinhaltet eine intensive Auseinandersetzung mit den tieferen Dimensionen des Coachings, die über das reine Handwerkszeug hinausgehen.
Die PCC-Marker bieten hier wertvolle Orientierungspunkte. Sie beschreiben, wie sich diese Kompetenzen, die einen transformativen Ansatz auszeichnen, im Coaching zeigen und wie sie sich von „Coaching the What“ unterscheiden.
Die regelmäßige Reflexion der eigenen Coaching- Praxis mit erfahrenen Mentor*innen hilft dabei, die eigene Fähigkeit zum „Coaching the Who“ zu entwickeln.